Berit Glanz: Unter weitem Himmel
Berit Glanz erzählt in Unter weitem Himmel (Berlin Verlag) von kulturellem Austausch, wissenschaftlicher Neugier und der Suche nach Zugehörigkeit.
Vor der rauen Kulisse Islands kreuzen sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Wege des bretonischen Fischers Olier und der jungen Isländerin Sólrún. Mehr als hundert Jahre später forscht die deutsche Genetikerin Maris in Island an einer ungewöhnlichen Schaf-Chimäre – und macht dabei Entdeckungen, die ihr eigenes Leben verändern. Darüber, wie der Zufall unserer Herkunft unser Leben prägt, spricht Berit Glanz mit Svenja Reiner.
Anfangs hatte sie das Gefühl der eigenen Nichtigkeit im Angesicht der Berghänge und riesigen Felsbrocken verunsichert. Der unangenehmen Vorstellung, dass sich auf dieser Insel regelmäßig der Erdkern nach außen kehrte, war sie mit einem rasch wachsenden Interesse für Geologie und Vulkanologie begegnet, sodass sie die Bewegung der Kontinente mittlerweile tröstlich fand. Ihr Leben war nur ein Bruchteil von Sekunden im Vergleich zur gemächlichen Realität der sich verschiebenden Steinmassen.
Ein atmosphärischer Roman, der uns von Frankreichs Küste bis in die Fjordlandschaften Islands – vor allem aber über ein Jahrhundert hinweg – führt und dabei kontinuierlich einen Dialog zweier Geschichtsmomente mit mosaikartig in Beziehung zueinander tretenden Figuren entstehen lässt.
Auf der einen Seite des Jahrhunderts treffen wir auf den Dünkirchener Fischer Olier, der 1906 auf der »Étoile du Marin« anheuert und mit ihr Richtung Island aufbricht. Den es in ein Krankenhaus an der isländischen Küste verschlägt, in dem er der Krankenschwester Sólrún begegnet. Auf der anderen Seite, im Hier und Jetzt, verfolgen wir Maris, die nach dem frühen Verlust ihrer Mutter und dem Tod ihrer Großeltern als Biologin auf Island arbeitet. Einen Großteil ihrer Freizeit verbringt sie damit, Fremden auf Internetseiten mit ihrem genetischen Know-how beim Aufspüren von Familienangehörigen zu helfen. Nach ihrem eigenen Vater zu suchen, erwägt und verwirft sie mehrmals. Über ihren Job gelangt Maris an genau den Ort, an den es schon Olier – mehr als ein Jahrhundert zuvor – verschlagen hat.
In Berit Glanz’ vielperspektivischer Erzählung begegnen wir starken und mutigen Charakteren, deren Leben von grausamen Schicksalsschlägen, aber auch progressiven Entscheidungen geprägt sind. Wir erfahren von Fremden, die entwurzelt wurden, aufbrechen und sich neu verwurzeln, von Identität und der Suche nach sich selbst. Einem Selbst, für das der Roman ein beruhigendes Selbstverständnis hinterlässt, auch Jahrzehnte später noch in kleinen Details zu überdauern und gefunden zu werden.
»Was Glanz in ihren Texten macht, ist eine neue Art Philosophie« (Lesart).