Jackie Thomae: Glück
Klug und mit pointiertem Witz erzählt Glück (Ullstein) von Frauen unter Druck: über die Phase im Leben, in der sie zu alt sind, um noch länger warten zu können, und zu jung, um es hinter sich zu haben.
Der Roman stellt die Frage, ob eine Frau nur als Mutter oder auch anders glücklich werden kann. Mit Anne Burgmer spricht Jackie Thomae über unerfüllbare Anforderungen und die Suche nach Erfüllung.
Ich sehe einen Zug davonfahren, sagte MC. Ich sehe die Rücklichter. Und ich hasse es, zu rennen. Ich sehe eine Tür, die sich langsam schließt, ich bleibe allein in einem dunklen Zimmer zurück. Ich sehe eine Sanduhr, durch die rieselt die Zeit, die mir noch bleibt. Ich sehe mich selbst bei der Reise nach Jerusalem. Heißt dieses Spiel noch so? Jedenfalls sehe ich mich herumtanzen und keinen freien Stuhl finden. Ich sehe mich selbst auf einem Wühltisch. Gehöre ich auf einen Wühltisch? Gibt’s mich jetzt im Ausverkauf? Und auch ich selbst wühle auf einem Wühltisch herum und suche nach Ladenhütern. Die Guten sind weg. Ich bin zu spät.
Sie sind Töchter, Schwestern, Freundinnen … aber vielleicht wollen sie noch etwas anderes sein: Mütter. In ihrem neuen Roman blickt Jackie Thomae auf Frauen in der Mitte ihres Lebens, die sich unbequemen Fragen stellen müssen und mit einer geschlechtsspezifischen Ungerechtigkeit hadern: ihre biologische Uhr tickt!
Marie-Claire, kurz MC, bekannt als die gut gelaunte Stimme aus dem Radio, bekommt mit knapp vierzig von ihrer Frauenärztin diesen Satz zu hören: Sie hatten ein Vierteljahrhundert Zeit. Und jetzt ist es zu spät oder so gut wie. Die wichtigste Deadline des Lebens: verpasst. Den im Grunde einzigen Daseinszweck: verfehlt. Oder noch nicht? Denn als MC am nächsten Morgen aufwacht, ist sie zu ihrer eigenen Überraschung das erste Mal wirklich glücklich.
Anahita ist eine wandelnde Erfolgsgeschichte: Senatorin mit nicht einmal vierzig, Medienprofi, in ein paar Jahren könnte sie in Brüssel sitzen. Doch etwas fehlt, auch wenn sich das niemand zu sagen traut. Eine Politikerin muss kompetent sein, und ist Mutterschaft nicht immer noch die wichtigste Kompetenz einer Frau?
Glück ist ein Roman voller Fragen: Ernüchternd ehrlich und überaus feinfühlig nähert er sich den Themen Frausein und Älterwerden mit all seinen Erwartungen. »Jackie Thomaes Kunst liegt darin, große Kunst zu schaffen, ohne dass die sich groß anfühlt, einen Roman mit Anspruch, der den Anspruch nicht vor sich herträgt« (Der Spiegel).
2021 war Jackie Thomaes Roman Brüder unser »Buch für die Stadt«, nun freuen wir uns auf ein Wiedersehen mit Glück im Literaturhaus.