Vererbtes Schweigen. Deutschland und seine Vergangenheit
In unserer Reihe »spielraum. Eine Reihe zu Fragen der Zeit« widmen wir uns dem Thema, wie sich verdrängte Traumata des Krieges bis heute auf die Gegenwart auswirken.
In Der blinde Fleck (Heyne) erkunden Stephan Lebert und Louis Lewitan die Spuren des Zweiten Weltkriegs in heutigen Familien und fragen die Nachgeborenen, was sie von ihren Familien über die Jahre 1933 bis 1945 wissen. Lina Schwenk erzählt in ihrem Romandebüt Blinde Geister (C.H.Beck) von transgenerational weitergegebenen Ängsten, Sprachlosigkeit und dem Versuch, sich davon zu befreien. Beide Werke stellen die Frage in den Raum, wie das Verschwiegene, Verdrängte, Vererbte unser Leben prägt. Es moderiert Stefan Koldehoff.
Ich habe Karl früher manchmal gefragt, ob er jemanden erschossen hatte im Krieg. Jedes Mal war er so erschrocken, dass er zuckte oder stolperte. Er sah in dem Moment aus wie alle deutschen Veteranen, wie die Patienten in den Krankenhausbetten, die den Kopf auf diese eine Art und Weise schüttelten. Bleibt die Frage, wer die Millionen ermordet hat. Nicht unsere Väter. (aus: Blinde Geister)
Ich glaube, die Deutschen haben sich sehr bewusst in die Verdrängung gestürzt. Sie haben sich bewusst für die Lüge, für die Strategie der Verleugnung entschieden. Sie wussten sehr genau, warum sie nicht zurückblicken wollten, warum sie ihren Taten nicht ins Auge sehen wollten. Da war nichts passiv, die Deutschen handelten aktiv. Sie waren keine Opfer, sie waren – wenn man es so ausdrücken möchte – Täter. Sie waren Täter, sie waren Ahnende, Wissende, Mitwissende. Und sie wollten nicht vor Gericht gezerrt werden. Vor allem nicht vor ihr eigenes, inneres. Unfähigkeit zu trauern? Nein. Ich würde von der Unwilligkeit zu trauern sprechen. (aus: Der blinde Fleck)
Das Ende des Zweiten Weltkriegs liegt 80 Jahre zurück und es gibt nur noch wenige Zeitzeug*innen. Jedoch hinterlässt ihre Vergangenheit bis heute Spuren in den Familien. In ihrem Buch Der blinde Fleck widmen sich der Journalist Stephan Lebert und der Psychologe und Traumaexperte Louis Lewitan diesen Spuren, die Täter, Komplizen, Handlanger und Opportunisten in den Nachfolgegenerationen hinterlassen haben. In Gesprächen mit Betroffenen legen sie offen, wie sich unbewältigte, unbesprochene Vergangenheit in Form von Ängsten, Beziehungsmustern oder einem diffusen Gefühl der Entwurzelung fortsetzt. Sie zeichnen eindringliche Porträts von Menschen, deren Lebensgefühl durch eine Vergangenheit geprägt ist, die sie nicht selbst erlebt haben – und die dennoch in ihnen gespeichert ist.
In Lina Schwenks Roman Blinde Geister begleiten wir eine Familie von den 1950er-Jahren bis in die Gegenwart. Ihr Alltag ist geprägt durch diffuse Bedrohung und Sprachlosigkeit – ein Klima, das sich wie ein unsichtbarer Faden in die Generation der Kinder fortschreibt. Mit feinem Gespür zeigt Lina Schwenk, wie tief verwurzelte Ängste weitergegeben werden und wie schwer es ist, sich aus ihnen zu lösen.
Ein Abend über transgenerationale Traumata, historische Verantwortung und den Mut, Fragen zu stellen, zu erzählen und sich mit dem eigenen Erbe zu konfrontieren.
Blinde Geister steht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2025.
Mit freundlicher Unterstützung der Kunststiftung NRW und der Victor Rolff Stiftung